Die Wahrheit in den Sand gesetzt – Spenglers neuer Roman

Die Mienen der Gastgeben, die den sowjetischen Museumsexperten Leo Zwirn 1960 in der chinesischen Provinz empfangen, entsprechen den „einschlägigen Richtlinien der militärischen Dienstvorschrift 772“. Doch so ganz willkommen fühlt sich der in Leningrad in Ungnade gefallene Zwirn in Tilman Spenglers ironischem Schelmenstück „Made in China“ nicht. Die Zukunft ohne Pass ist ungewiss, der russische Bonvivant wird gewaltig Wüstenstaub aufwirbeln müssen, um die Genossen im fernen Peking auf sich aufmerksam zu machen.

Spektakuläre Sicht auf das künstlerische Frühwerk Maos

Das gelingt ihm und seinen Mitstreitern am Museum der alten Kaiserstadt Xi’an zunächst mit einer spektakulären Sicht auf das künstlerische Frühwerk Maos. Und dann findet Zwirn, stets argwöhnisch beäugt vom Politkommissar, dem „Stählernen Wu“, die Gelegenheit, inmitten der Umwälzungen der Kulturrevolution den Blick der Welt auf Xi’an zu lenken: Die Schaffung einer Terrakotta-Armee wird zur Sensation und wirft viele Fragen auf. Tilman Spenglers vergnügliche Erzählung über parallele Wahrheiten, die Kunst des Fälschens und die Löschung und Neuerfindung von Geschichte spielt in der Vergangenheit, klingt aber erstaunlich aktuell.

AZ: Herr Spengler, Ihr Roman spielt hauptsächlich während der Kulturrevolution, wann waren Sie zum ersten Mal in China?
TILMAN SPENGLER: Ich bin 1969 als Student zum ersten Mal in China gewesen, aber in die Gegend, in der mein Roman spielt, bin ich erstmals 1975 gekommen, gegen Ende der Kulturrevolution. Ich begleitete damals eine deutsche Delegation von Paläontologen, die in der Wüste Gobi nach Dinosauriereiern suchte.

Sind Sie fündig geworden?
Nur ein Ei, versteinert natürlich. Die Wüste ist eben groß. Und am Ostrand liegt die alte Kaiserstadt Xi’an. Dort wurden schon die ersten Ausgrabungen der Terrakotta-Armee ausgestellt. Mir ist schon damals aufgefallen, dass die dortigen Wissenschaftler so auffallend gut behandelt, geradezu hofiert wurden. Archäologen hatten fast den Status, den später Astrophysiker einnahmen. Und das zu einer Zeit, als die meisten ihrer Kollegen, die Mathematiker oder Chemiker in Schweinekoben saßen oder im Lager. Ausgerechnet die Archäologen aber, die sich um die Ausgrabung der Terrakotta-Armee des grausamsten Kaisers der chinesischen Geschichte kümmerten, die fuhren in großen Autos vor und trugen die Nasen hoch.

„Was ist echt, was ist auffällig?“

Es gab ja anfangs Zweifel an der Authentizität der Terrakotta-Armee.
Einer von mehreren Legenden nach stießen 1974 zwei Bauern auf der Suche nach einer Wasserader auf die Krieger. Es mussten natürlich Bauern sein, also Vertreter der Massen. Nach und nach wurden die Funde zu einem Exportschlager für internationale Museen . Es mussten aber immer auch wieder Exponate zurückgenommen werden, weil sie offenkundige Fälschungen waren. Vor ein paar Jahren dann las ich den Aufsatz eines französischen Sinologen, der mit großem kennerhaften Pathos behauptete, alle modernen Analysetechniken seien ihm egal, er müsse nur in die Gesichter der Soldaten dieser Armee blicken, um zu wissen, dass es sich um eine gigantische Fälschung handele. Als ich das las, dachte ich, man müsste mal darüber sinnieren, was eigentlich wäre, wenn dieser Mann Recht habe – so fing meine Spekulation an. Und das ist der Ursprung zu diesem Roman: Was ist echt, was ist auffällig?

Die Erfindung von Tradition ist ein probates Mittel der Politik, in Ihrem Roman ist Mao sogar ein Vorläufer von Kasimir Malewitsch.
Mao hat als junger Student aus Protest gegen die klassische Ausbildung im Landschaftszeichnen nur Vierecke gemalt. Das ist verbürgt, der Rest ist natürlich meine Fiktion.

Wie haben Sie die Kulturrevolution erlebt?
Sagen wir mal so: Gegen Maoismus im wortwörtlichen Sinne war man als Sinologe weitgehend gefeit. Natürlich war es atemberaubend, wie damals plötzlich eine ganz andere Inszenierung von Politik auf die Weltbühne kam. Die grausamen Seiten jener chinesischen Revolution, Sprichwort hier nur: „Großer Sprung vorwärts“, und andere Mythen sind ja erst später in ihrem Grauen deutlich geworden. Sehr schlicht gesagt: Die USA galten als Verbrecher, etwa wegen Vietnam, die UdSSR hatte den Marxismus verraten. Hierzulande kamen auch schnell die großen französischen Sinndeuter in Mode, die uns erklärten, sie bewunderten das angeblich Klare und Verbindliche in der Ideologie von Mao. Abgesehen davon, sei es doch ganz toll, dass ein ganzes Volk von 900 Millionen Menschen nur zwei verschiedene Arten von Hosen bräuchte.

Verbindung von Maoismus und Popkultur

Das betraf aber nicht unbedingt die Bedürfnisse der westlichen Bewunderer dieses Ansatzes.
Nicht direkt, aber es war die Verbindung von Maoismus und Popkultur, die war ja ziemlich eindeutig in der westlichen Interpretation. Denken Sie an die Bilder von Andy Warhol. Ein Teil der Illusion war eine Abkehr der Konsumwelt, weshalb die jungen Europäer so begierig Mao-Jacken kauften, um sie in Paris, London oder München zu tragen. Oder in China. In einem Kapitel meines Romas beschreibe ich den Tourismus, auf Chinesisch die Industrie ohne Rauch, da erinnere ich mich an westliche Reisende, die partout nicht in einem Hotel wohnen wollten, sich auch gegen den Transport ihres Gepäcks durch fremde Hände sperrten, sondern so leben wollten wie die Arbeiter oder Bauern. Das hat die Chinesen damals – gelinde gesagt – etwas verdutzt.

„Wer Wölfe fürchtet, bringt keine Pilze heim“ ist eine von Dutzenden Weisheiten in Ihrem Roman. Sind das alles chinesische Sprichwörter oder doch an Ihrem Schreibtisch entstandene?
Das ist interkulturell zu sehen. Der chinesische Wortwitz hat große Ansteckungsgefahr. Darin liegt einer der Gründe, warum ich mich so gerne dort aufhalte. Die chinesische Sprache ist so einfallsreich wie die vielen Küchen des Landes. Witzig, verschlagen, einfallsreich. Ich rede hier gerade allerdings nicht von der Sprache, die zur Zeit von den politisch Verantwortlichen der KP geführt wird.

Atmosphäre der Unsicherheit

Man spürt in Ihrem Roman auch die Atmosphäre der Unsicherheit, die Protagonisten wollen nicht das Falsche tun, weil man nie genau weiß, wer gerade welchen Machtkampf gewinnt, oder in Ungnade fällt.
Die List, gegen die Obrigkeit vorzugehen wetteifert mit der Kunst der Regierung, ihre Untergebenen in Schach zu halten. Mein Buch ist eine Liebeserklärung an das kreative Umgehen von Verordnungen, eine chinesische Tradition, die so alt ist wie das Regieren überhaupt. Wenn nicht älter. Naturgemäß ist ständig Vorsicht geboten. Die Nase sehr weit herauszustrecken war immer gefährlich. Das passende Sprichwort dazu heißt: „So wie das Schwein das Fett fürchten muss, sollte der Mensch den Ruhm fürchten.“

Apropos Ruhm: In China gibt es schon ein Museum, das den weisen Umgang des Staatschefs Xi Jinping im Sieg gegen Corona abbildet. Es wird dort auch behauptet, dass Merkel den chinesischen Impfstoff dem deutschen vorziehen würde.
Die chinesische Propaganda ist eine einzige Katastrophe. Sie reißt mit dem Hintern immer wieder ein, was ein parteitreues Hinkebein aufgebaut hat. Die Dummen sind in diesem Spiel meist die kenntnisreichen Diplomaten. Nehmen Sie nur die Anstrengungen der Konfuzius-Institute. Für jedes Konfuzius-Institut, das eröffnet, reicht eine Meldung mit den Gräueltaten aus dem Uiguren-Gebiet, um den ganzen Propaganda-Effekt auszulöschen.

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Glaubt die Bevölkerung größtenteils diese nationalistische Propaganda?
Ich kenne keine Bevölkerung, die nicht durch nationalistische Propaganda zumindest gefährdet wäre. Aber bedenken Sie: Die einzige Ideologie, die nach Mao übrig geblieben ist, ist die Ideologie des Nationalismus. Deswegen wird der ebenso gepflegt wie der Personenkult um den großen Führer XI Jinping. Das ist als Sinnstiftung erfolgreich, auch weil die Erinnerung an die Revolutionen der letzten 70 Jahre nichts Tolles verheißt. Mit Ausnahme der Losung von Deng Xiao-ping: „Bereichert Euch!“ Solange also die Mehrzahl der Menschen über das verfügen, was man früher „die eiserne Reisschüssel“ nannte, droht den Herrschenden keine große Gefahr. Und es ist ja auch so: Die meisten Großeltern waren verarmte Wanderarbeiter oder Bauern, die Ekelkinder fahren Autos. Ob das jetzt allein das Verdienst der Kommunistischen Partei ist, ob das in einem ökologischen Sinn klug ist, darüber kann man streiten. Letzteres gilt allerdings auch für die Hauptverursacher allen ökologischen Unbills. Ich rede von unserer eigenen Kappe.

Sie gehören zu den Unterzeichnern eines Appells, die Buchläden endlich wieder zu öffnen.
Man hat in diesem Appell allerdings meinen Vornamen falsch geschrieben. Soviel zur Buchkunst. Dennoch beteilige ich mich mit Hingabe gerade an dieser Initiative, deren Schicksal mir schon deswegen als heikel erscheint, weil ich so selten Politiker in Buchhandlungen getroffen habe.

Tilman Spengler: „Made in China“ (Transit, 240 Seiten, 24 Euro)

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