Mai Thi Nguyen-Kim: ‚Ich möchte ein Superspreader für wissenschaftliche Aufklärung sein‘

Die 33-jährige Mai Thi Nguyen-Kim, studierte Chemikerin, arbeitet als Wissenschaftsjournalistin und moderierte das TV-Wissensmagazin „Quarks“ im WDR. Seit April 2021 ist sie beim ZDF unter Vertrag. Sie betreibt zudem den Youtube-Kanal „Mailab“. Für ihre Arbeit wurde die gebürtige Heppenheimerin unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Sie ist verheiratet und hat im vergangenen Jahr eine Tochter bekommen.

AZ: Frau Nguyen-Kim, die Corona-Aufklärungsvideos auf Ihrem Youtube-Kanal „Mailab“ sind extrem erfolgreich. Mit mehr als sechs Millionen Views war „Corona geht gerade erst los“ dort das meistgesehene deutsche Video in 2020. Gelobt werden Sie vor allem dafür, auch komplexe Inhalte verständlich herunterzubrechen. Übernehmen Sie damit den Job, den eigentlich die Regierung leisten müsste?
MAI THI NGUYEN-KIM: Nein, natürlich nicht. Wissenschaftsjournalismus hat nicht nur die Aufgabe, komplexe Zusammenhänge zu erklären – Dolmetscher zu spielen zwischen Fachleuten und Öffentlichkeit, sozusagen -, sondern auch unabhängig einzuordnen und kritisch zu hinterfragen. Wenn es um wissenschaftliche Aufklärung geht, tragen viele unterschiedliche Akteure Verantwortung: die Regierung, das Bundesgesundheitsministerium,

Behörden wie das RKI oder das Paul-Ehrlich-Institut, aber natürlich auch Medienschaffende und – ganz besonders wichtig – die wissenschaftlichen Fachleute selbst. Insgesamt vermisse ich in der Kommunikation mit Laien oft die wissenschaftliche Tiefe, die komplexeren Details, ohne die man ein Thema gar nicht wirklich durchdringen kann. Verkürzungen führen oft zu Verwirrung. Ich glaube, Mailab ist so erfolgreich, weil wir uns Mühe geben, Inhalte nicht „runterzudummen“.

Lesen Sie auch

ZDF verpflichtet Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim

Lesen Sie auch

Zwischen Corona und Haus-Tour: Die Top-Videos auf YouTube 2020

Impf-Wirrwarr? – Mai Thi Nguyen-Kim: „Meine Antwort ist immer: der Stiko folgen“

In ihrem letzten Video geht es um den Astrazeneca-Impfstopp. Seitdem gab es viel Hin und Her: Astrazeneca wurde von der Ema wieder zugelassen, die Stiko empfiehlt es aber nur für Über-60-Jährige. Das Vakzin von Johnson & Johnson wurde ebenfalls wegen Thrombosefällen gestoppt, dann von der Ema wieder zugelassen. Viele sind verunsichert. Würden Sie sich mit beiden Vakzinen impfen lassen?
Auch schon vor Corona wurde ich immer mal wieder im Freundes- und Bekanntenkreis um Rat bei Impfungen gefragt – in letzter Zeit häufiger, klar. Meine Antwort ist letztendlich immer: der Stiko-Empfehlung folgen. Damit man der Stiko nicht blind vertrauen muss, habe ich in meinem neuen Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ der Sicherheit von Impfstoffen ein ganzes Kapitel gewidmet, das im Detail erklärt, wieso ich auf die Stiko setze. Warum Ema und Stiko zu unterschiedlichen Empfehlungen kommen, ist natürlich zunächst verwirrend, aber eigentlich ganz gut nachvollziehbar.

Inwiefern?
Die europäische Ema sieht mit ihrem europäischen Blick auf die Pandemie, dass der Nutzen des Impfstoffes das Risiko weit hinter sich lässt. Man darf nicht vergessen: Dieses Virus wird nicht verschwinden – heißt, wer sich nicht impfen lässt, wird sich früher oder später mit Corona infizieren. Doch bei den Landesbehörden wie der Stiko fließen eben auch länderspezifische Überlegungen in die Risikoabwägung mit ein, zum Beispiel: Welche anderen Impfstoffe und wie viel davon sind hierzulande verfügbar? Es macht natürlich einen Unterschied, ob die Frage lautet: Astrazeneca oder gar keine Impfung? Oder ob die Frage lautet: Astrazeneca oder einen anderen Impfstoff? Wenn man nach Umverteilen der Impfstoffe innerhalb der Altersgruppen genauso schnell vorankommt mit der Impfkampagne, kann man sich diese Extra-Vorsicht leisten.

Mit dem Impfen verbinden viele die Hoffnung auf zurückgewonnene Freiheit. Darum ging es kürzlich auch in einer Sendung von Markus Lanz, zu der Sie und der Virologe Hendrik Streeck geladen waren. Thema war Streecks Heinsberg-Studie, die in der politischen Debatte als Argument für Lockerungen genutzt wurde. „Entweder sind Sie, mit Verlaub, schrecklich naiv und haben sich instrumentalisieren lassen, oder sie haben sich politisch bewusst auch eher auf die Seite ‚Öffnungen‘ gestellt“, so Ihre Worte – stehen Sie dazu?
Naja, ich würde schon sagen, dass Herr Professor Streeck in der öffentlichen Wahrnehmung als einer der eher entspannteren Virologe verstanden und mit Kritik an strengeren Maßnahmen und Forderung nach Lockerungen verbunden wird. Das ist ja völlig okay. Mich hatte in diesem Moment nur gewundert, dass er sich von den Medien zu unrecht dort verortet sah. Dabei ist er doch inzwischen Medienprofi.

Sie haben Professor Streeck dann nochmals öffentlich um Antworten gebeten. Wieso?
Wir wurden ja jäh vom Sendungsende unterbrochen, bevor wir richtig über die Heinsberg-Studie sprechen konnten. Ich habe meine Fragen an Professor Streeck auch öffentlich auf Twitter dargelegt. Beantwortet sind sie bisher nicht.

Zurück zum Impfen: Ihr kürzlich erschienenes Buch „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ liefert wissenschaftliche Erkenntnisse zu großen Streitthemen: Legalisierung von Drogen, Tierversuche, alternative Medizin – und Impfen. Was stört sie bei diesem Thema derzeit am meisten?
Mich frustriert am meisten, dass wir viel Zeit mit unnötigen Debatten verschwenden. Zum Beispiel, indem wir uns gegenseitig anheizen und hochschaukeln, um uns auf einem Schwarz-Weiß-Bild zu positionieren. In jedem Kapitel meines Buches wird man sehen, dass nichts je schwarz-weiß ist. Es gibt nicht nur etliche Grautöne, sondern auch die eine oder andere interessante Farbe, die man so noch nicht gesehen hat. Allein dadurch werden Debatten weniger kontrovers und dafür viel interessanter.

Mai Thi Nguyen-Kim: „Wenn ich etwas lustig finde, kann ich es mir auch besser merken“

Sie beschreiben im Buch auch Anfeindungen im Netz, die Ihnen unterstellen, Sie seien Teil eines Pharma-Verschwörungsnetzwerkes – auch, weil Ihr Mann, der ebenfalls Chemiker ist, in einem Chemie- und Pharmaunternehmen arbeitet. Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, Sie seien nur auf die Impfstoff-Verdienste aus?
Mit Gelassenheit. Vor Corona wurde ich von Wissenschaftsverweigerern tendenziell eher als die dumme, gehirngewaschene Youtuberin abgestempelt, inzwischen bin ich offenbar zur hirnwaschenden Strippenzieherin avanciert. Diesen Aufstieg in der Verschwörerhierarchie habe ich natürlich meiner gewachsenen Reichweite zu verdanken. Deswegen konzentriere ich mich einfach genau darauf, auf meine Plattformen, meine Inhalte.

Man muss das so sehen: Bei jedem „Dislike-Angriff“, zu dem gewisse Verschwörungsideologen bei Telegram aufrufen, schicken sie ja eine Menge Leute zu meinen Inhalten und vielleicht bleibt jemand dann doch mal aus Versehen hängen und gerät ins Grübeln. Ich bleibe optimistisch.

Solche Angriffe wären Ihnen wohl als Chemikerin im Labor erspart geblieben – warum haben Sie sich bewusst dafür entschieden, als Wissenschaftlerin so stark die Öffentlichkeit zu suchen?
Um wissenschaftliche Inhalte sichtbar zu machen, am besten auf allen erdenklichen Plattformen. Ich möchte ein Superspreader für wissenschaftliche Aufklärung sein.

Dabei setzen Sie, vor allem auf Youtube, auch auf viel Witz und Nahbarkeit. Inwiefern braucht man als Wissenschaftler Humor – und wie hilft er Ihnen bei Ihrer Arbeit?
Brauchen? Nein. Aber es hilft sicher verdammt viel. Ich selbst lache viel und gerne und wenn ich etwas lustig finde, kann ich es mir auch besser und länger merken. Humor ist ein tolles Vehikel, um ernsthafte Inhalte zu vermitteln.

Quelle: Lesen Sie Vollen Artikel